„Stimmen aus der Stille“ von Yahya Ekhou (im Akono Verlag erschienen) versammelt Kurzbiografien mauretanischer Frauen, deren Erfahrungen und Lebenswege selten öffentliche Beachtung finden. Der Band verbindet literarische Qualität mit gesellschaftlicher Relevanz und bietet einen aufschlussreichen Einblick in ein von patriarchalen Strukturen, religiösen Normen und traditionellen Werten geprägtes Umfeld. Buchbesprechung >>>
Wer bist Du, was machst Du hauptsächlich und wo liegt dabei der Fokus?
Ich bin Yahya Ekhou, ein mauretanischer Autor, säkularer Menschenrechtsaktivist und Jurist. Ich setze mich seit Jahren intensiv für die Rechte von Minderheiten in meinem Heimatland ein. Mein Ziel ist es, die Stimmen derjenigen hörbar zu machen, die in repressiven Strukturen leben: Frauen, Unterdrückte, Menschen, die im Schatten des Systems existieren. Durch meine Bücher und meine politische Arbeit versuche ich, Prozesse des Wandels anzustoßen und Räume für Freiheit zu öffnen.
Ich glaube fest daran, dass jedes System bekämpft werden muss, das Menschen in starre Hierarchien eingeteilt, einer kleinen Elite Privilegien gewährt und der Mehrheit ihre Rechte, ihre Würde und ihre Gleichheit verweigert – so wie das stammes- und religionsbasierte Herrschaftssystem in meinem Land. Denn keine Diktatur gibt den Menschen ihre Rechte freiwillig zurück.
Zugleich bin ich Gründer und Vorsitzender der Organisation »Liberals Mauritania« und habe an zahlreichen internationalen Konferenzen und Seminaren teilgenommen, um auf die Lage der Menschenrechte aufmerksam zu machen.
Für mich ist Literatur ein Ort des Widerstands. Ein Raum, in dem verdrängte Stimmen wieder hörbar werden und Geschichten aus scheinbar fernen, unbekannten Ländern ihre Kraft entfalten. In diktatorischen Regimen sind Worte oft mächtiger als Kugeln – und genau darin liegt ihr tiefster Wert.
Was war Deine persönliche Motivation, dieses Buch zusammenzustellen, und weshalb war es gerade jetzt wichtig, die Stimmen mauretanischer Frauen hörbar zu machen?
Meine Motivation entstand aus der Verantwortung, die Geschichten derjenigen zu dokumentieren, die in meinem Land keine Stimme haben.

Verlag: Akono
Ich habe selbst erlebt, wie es ist, ohne Rechte zu leben, und das ist unbeschreiblich schrecklich, nur diejenigen, die eine ähnliche Erfahrung gemacht haben, können es wirklich verstehen. Aus meiner Sicht ist die beste oder schnellste Methode, eine Gesellschaft zu analysieren, den Status der Frauen innerhalb dieser Gesellschaft anzusehen.
Ich versuchte, so kurz und tief wie möglich über die mauretanische Gesellschaft zu erzählen und die Frauengeschichten waren die beste Methode dafür.
Mauretanische Frauen leben in einem Umfeld, das von tief verwurzelten patriarchalen und religiösen Normen geprägt ist. Gerade deshalb war es jetzt wichtig, diesen Frauen Gehör zu verschaffen, da ihre Erfahrungen immer noch vollständig unsichtbar bleiben.
Wie wurde der Kontakt zu den Frauen hergestellt, die in einem so restriktiven Umfeld leben, und welche Risiken gingen sie ein, als sie ihre Geschichten geteilt haben?
Über »Liberals Mauritania«, die Organisation, die ich vor Jahren in meinem Heimatland gegründet habe, haben mich einige Frauen kontaktiert, andere wiederum über ein Netzwerk von Vertrauenspersonen vor Ort, das ich über viele Jahre aufgebaut habe und das zwischen Freunden, Aktivisten und informellen Gruppen vermittelt.
Die Risiken für die Frauen waren enorm: Sie mussten damit rechnen, gesellschaftliche Ächtung, familiären Druck oder sogar staatliche Sanktionen zu erleben. Jede Beteiligte wusste, dass allein das Sprechen über Gewalt, Traditionen oder religiösen Zwang bereits als Tabubruch gilt. In einigen Fällen kann dies zu Gefängnisstrafe und Verschwindenlassen führen.
Das Buch macht Erfahrungen sichtbar, die außerhalb Mauretaniens kaum bekannt sind. Woran liegt es deiner Meinung nach, dass man kaum etwas über Mauretanien weiß?
Die Bedeutung, die Menschenrechtsfragen in einem Land beigemessen wird, hängt von vielen Faktoren ab. Der wichtigste ist die wirtschaftliche und politische Bedeutung des Landes. Viele Länder werden von Diktaturen regiert, doch in den Medien wird darüber kaum berichtet. Leider werden wirtschaftliche Beziehungen oft vor Menschenrechten priorisiert.
Mauretanien liegt politisch und medial am Rand der internationalen Aufmerksamkeit. Das Land ist weder wirtschaftlich stark noch politisch relevant genug, um dauerhaft im Fokus zu stehen. Gleichzeitig kontrolliert der Staat Informationen sehr effektiv, während viele Menschen aus Angst schweigen. Die Kombination aus politischer Isolation, sozialer Repression und fehlender journalistischer Infrastruktur trägt dazu bei, dass Mauretanien international weitgehend unsichtbar bleibt.
Das Buch besitzt sowohl dokumentarische als auch literarische Elemente. Wie hast Du eine angemessene Balance zwischen authentischer Zeugenschaft und literarischer Gestaltung gefunden?
Für mich stand die Authentizität der Frauen an erster Stelle. Ich habe ihre Geschichten mit größtem Respekt dokumentiert und die Interviews gleichzeitig vom journalistischen Stil (Frage-Antwort) in Kurzgeschichten umgewandelt, die von literarischer Erzählkunst, eindringlichen Beschreibungen und Prägnanz sind, um die emotionale Tiefe spürbar zu machen. Ziel war nicht die bloße Dokumentation, sondern die Schaffung einer Form, die die Realität abbildet und die Innenwelt der Frauen sowie der mauretanischen Gesellschaft im Allgemeinen widerspiegelt.
Ich glaube an einen literarischen Stil, der im Kopf der Leser*innen bleibt. Ich habe mich auch bemüht sicherzustellen, dass diese Geschichten als eine Art Dokumentation über mein Land und meine Gemeinschaft dienen, über die die Mehrheit nicht viel weiß.
In den Erzählungen spielen religiöse Normen, Traditionen und patriarchale Strukturen eine zentrale Rolle. Wie funktioniert das Zusammenspiel dieser Faktoren, und wo wären mögliche Ansatzpunkte für Veränderungen?
Frauenrechte werden noch weitgehend als ausländisches Konzept wahrgenommen, das heimischen Normen und Traditionen widerspricht und daher rasch als Angriff auf die eigene kulturelle Authentizität gewertet wird.
Themen wie Frauenrechte oder auch die Gleichstellung der Geschlechter wurden abgelehnt, weil sie im Widerspruch zu den Texten des islamischen Rechts standen. Religion spielt in dieser Diskussion zwangsläufig eine wesentliche Rolle.
In Mauretanien verstärken sich Religion, Tradition und Patriarchat gegenseitig. Religiöse Normen werden häufig genutzt, um traditionelle Rollenbilder zu legitimieren, während patriarchale Strukturen deren Einhaltung kontrollieren. Das Ergebnis ist ein System, das Frauen systematisch ihrer Freiheit beraubt.
Ansatzpunkte für Veränderung liegen in einer stärkeren Bildung von Mädchen, im Schutz von Frauenrechtsaktivistinnen, in internationalem Druck sowie in der Förderung alternativer religiöser und kultureller Interpretationen, die Freiheit statt Gehorsam betonen.
Wie beeinflusst das Leben im Exil Deine Arbeit als Menschenrechts-Aktivist und Autor? Kannst Du heute offener schreiben und wie wirkt sich das auf die Verantwortung gegenüber den porträtierten Frauen aus?
Das Exil gibt mir Freiheit, Dinge auszusprechen, für die ich in Mauretanien sofort verhaftet würde. Wer beispielsweise in Mauretanien sagt oder schreibt, dass alle Menschen gleich sind und die gleichen Rechte haben, wird wegen Gesetzesverstoßes inhaftiert.
Nicht alle sind dort nämlich gleich; nur sunnitische Muslime haben Rechte, alle anderen nicht. Jeder Bürger verliert seine Rechte, wenn er einer anderen Religion als dem Islam oder einer anderen Glaubensrichtung wie dem Schiismus angehört.
Es gibt ein Zitat von der politischen Philosophin Hannah Arendt: „Das Recht, Rechte zu haben.“ Dieses Zitat bringt eindrücklich zum Ausdruck, warum ich weiterhin kämpfe.
Diese Freiheit erhöht aber auch meine Verantwortung: Ich muss die Menschen schützen, die weiterhin dort leben. Deshalb anonymisiere ich alle Beteiligten, ändere Details, die Rückschlüsse zulassen könnten, und stimme jede Veröffentlichung sorgfältig ab. Das Exil ermöglicht mir Mut, verlangt aber auch größte Vorsicht.
Wie sind die Reaktionen aus Mauretanien oder aus der mauretanischen Diaspora – sowohl von Unterstützern als auch von Kritikern?
Innerhalb der Diaspora erhalte ich Unterstützung, besonders von Menschen, die selbst unter ähnlichen Strukturen gelitten haben. Sie sehen in dem Buch ein wichtiges Dokument. Gleichzeitig gibt es Kritik vor allem aus konservativen und religiösen Kreisen, die mir vorwerfen, das „Image des Landes zu beschädigen“ oder „westliche Narrative zu bedienen“.
Leider glauben viele immer noch, dass das Einfordern von Rechten und Freiheit westliche Werte seien. Eine Vorstellung, die sich durch einen Blick in die Geschichte leicht widerlegen lässt. Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Menschen, die für die Freiheit kämpften. Diese Polarisierung zeigt, wie dringend notwendig es war, das Schweigen zu brechen.
Was erhoffst Du langfristig von „Stimmen aus der Stille“ – für die internationale Wahrnehmung Mauretaniens, aber auch für die Frauen und deren Geschichten?
Ich hoffe, dass »Stimmen aus der Stille« Mauretanien langfristig aus der Unsichtbarkeit herausholt und auf die internationale Agenda bringt – nicht nur als geografischen Punkt auf der Landkarte, sondern als ein Land, in dem Menschenrechte systematisch verletzt werden und dessen Realität viel zu oft ignoriert wird. Mein Wunsch ist, dass das Buch internationale Beobachter, Medien und Entscheidungsträger stärker sensibilisiert und ihnen zeigt, wie dringend notwendig ein genauerer Blick auf Mauretanien ist.
Für die Frauen, deren Geschichten ich festgehalten habe, wünsche ich mir, dass ihre Stimmen und Erfahrungen nicht nur dokumentiert, sondern zu einem moralischen Weckruf werden – für ihre Gemeinschaft, für Entscheidungsträger und für alle, die an Gerechtigkeit glauben.
Wenn es gelingt, dass auch nur ein einziges Mädchen darin die Kraft findet, sich gegen Unterdrückung aufzulehnen, oder wenn die Berichte politische Debatten anstoßen, Reformprozesse beschleunigen oder Verantwortliche unter Druck setzen, dann hätte das Buch seinen tiefsten Sinn erfüllt.
Langfristig wünsche ich mir, dass das Buch zu einem Zeugnis wird, nicht nur des Leidens, sondern auch des unbeugsamen Mutes dieser Frauen. Ein Zeugnis, das bleibt, das erinnert und das Veränderungen möglich macht.
Website Yahya Ekhou: https://www.yahyaekhou.com
Instagram: yahyaekhou
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