Annegret Liepolds Roman „Unter Grund“ zeichnet das verstörende Porträt einer Jugend am rechten Rand
Es ist die alte Geschichte vom Dorf, das seine Kinder frisst – oder sie in die Arme derer treibt, die einfache Antworten auf komplexe Fragen versprechen. Annegret Liepold hat mit „Unter Grund“ einen Roman vorgelegt, der schmerzhaft aktuell die Mechanismen aufzeigt, mit denen rechtsextreme Ideologien in die Köpfe und Herzen Jugendlicher eindringen. Am Beispiel ihrer Protagonistin Franka erzählt sie von der gefährlichen Verführungskraft des Extremismus, die sich gerade dort entfaltet, wo Langeweile, Perspektivlosigkeit und der Hunger nach Zugehörigkeit aufeinandertreffen.
Unter Grund – Auf dem Land
Die Autorin führt uns in eine ländliche Gegend, in der die Zeit stillzustehen scheint. Hier, zwischen endlosen Feldern, Fischteichen und immergleichen Tagen, wächst Franka auf – umgeben von den erstarrten Traditionen der Elterngeneration, die sie gleichzeitig ersticken und ihr keinen Halt bieten. Liepold versteht es meisterhaft, die lähmende Atmosphäre provinzieller Enge zu evozieren, ohne dabei in Klischees abzugleiten. Ihre Sprache ist präzise und unprätentiös, wenn sie die Tristesse des Alltags schildert, aus der heraus die Sehnsucht nach Rebellion erwächst.
Was den Roman so beunruhigend macht, ist die Nachvollziehbarkeit von Frankas Weg in die rechte Szene. Es beginnt harmlos: mit Freundschaften, mit dem Bedürfnis dazuzugehören, mit der jugendlichen Lust an der Provokation. Liepold zeigt eindringlich, wie aus dem berechtigten Wunsch, die verstaubten Werte der eigenen Mutter zu hinterfragen, eine Hinwendung zu noch gefährlicheren Ideologien werden kann. Die rechte Gesinnung erscheint zunächst als das ultimative Mittel der Auflehnung – radikal, verboten, aufregend. Dass dahinter Menschenverachtung und Hass lauern, wird von den emotionalen Bindungen zu Gleichgesinnten lange Zeit überdeckt.
Unter Grund – Verführung
Die Stärke des Romans liegt in seiner psychologischen Durchdringung. Liepold moralisiert nicht von außen, sondern lässt uns die Verführung durch die Augen Frankas erleben. Wir verstehen, warum die „einfachen Metaphern“ der rechten Szene so attraktiv erscheinen können: Sie bieten Orientierung in einer als chaotisch empfundenen Welt, sie vermitteln ein Gefühl von Stärke und Überlegenheit, sie schaffen eine klare Unterscheidung zwischen „wir“ und „die anderen“. Gerade in der Adoleszenz, dieser Phase der Identitätssuche und Verunsicherung, können solche scheinbar eindeutigen Weltbilder eine fatale Anziehungskraft entwickeln.
Liepold verschweigt nicht die Konsequenzen dieser Verführung. Der Roman kulminiert in einer Beinahe-Katastrophe, die Franka aus ihrer ideologischen Verblendung reißt. Doch auch hier bleibt die Autorin bei ihrer differenzierten Betrachtungsweise: Der Ausstieg aus der Szene ist kein plötzliches Erwachen, keine kathartische Läuterung. Stattdessen schildert sie eindringlich die mühsame, von Scham und Selbstzweifeln geprägte Aufarbeitung der eigenen Verstrickung. Die „Schatten der Vergangenheit“ lassen sich nicht einfach abschütteln; sie verdunkeln noch lange den Blick auf einen möglichen Neuanfang.
Besonders gelungen ist die Darstellung der emotionalen Dimension des Extremismus. Liepold zeigt, dass es oft nicht primär die Ideologie selbst ist, die junge Menschen anzieht, sondern das Gemeinschaftsgefühl, die Freundschaften, die gemeinsamen Erlebnisse. Diese sozialen Bindungen machen den Ausstieg so schwer – wer die Ideologie hinter sich lässt, verliert oft auch sein gesamtes soziales Umfeld.
Unter Grund – In Europa
In Zeiten, in denen rechtsextreme Parteien in ganz Europa Zulauf haben und besonders bei jungen Menschen erschreckende Zustimmungswerte erzielen, ist „Unter Grund“ tatsächlich ein „wichtiges Buch zur richtigen Zeit“. Liepold liefert keine einfachen Antworten auf die Frage, wie wir der Verführung durch extremistische Ideologien begegnen können.
Der Roman ist auch eine Mahnung an die demokratische Gesellschaft: Wenn wir jungen Menschen keine überzeugenden Alternativen zur Einfachheit extremistischer Weltbilder bieten, wenn wir die Komplexität demokratischer Prozesse nicht vermitteln können, ohne dabei langweilig oder belehrend zu wirken, dann überlassen wir das Feld denen, die mit Hass und Hetze einfache Lösungen versprechen.
Annegret Liepold ist ein beeindruckender Roman gelungen, der ohne erhobenen Zeigefinger auskommt und gerade dadurch seine Wirkung entfaltet. „Unter Grund“ sollte Pflichtlektüre werden – nicht nur für Jugendliche, sondern vor allem für all jene, die verstehen wollen, warum die Demokratie gerade bei Teilen der jungen Generation in der Defensive ist. Ob es dafür schon zu spät ist wird nicht zuletzt davon abhängen, ob wir bereit sind, aus Büchern wie diesem zu lernen.