Eins, zwei, drei, wir – Zwischen Ich und Wir – Ein literarischer Balanceakt
Die Anthologie „Eins, zwei, drei, wir – Was Gemeinschaft kann“, zusammengestellt von Martha Schoknecht und im Frühjahr 2025 im Diogenes Verlag erschienen, stellt die Frage nach dem Wesen der Gemeinschaft in einer Zeit, in der sowohl Individualismus als auch Kollektivitätssehnsüchte neue Dynamiken entwickeln. Das 272 Seiten starke Werk versammelt Originalbeiträge zeitgenössischer Autorinnen und Autoren, die sich dem komplexen Spannungsfeld zwischen persönlicher Autonomie und gemeinschaftlicher Zugehörigkeit widmen.
Martha Schoknecht, seit 2008 als Lektorin beim Diogenes Verlag tätig und erfahrene Herausgeberin mehrerer thematischer Anthologien wie „Kleine Freuden“, „Geduld ist alles“ und „Merci“, hat mit diesem Band ein durchaus zeitgemäßes Projekt realisiert. Ihre Expertise in der Zusammenstellung literarischer Sammelbände zeigt sich in der sorgfältigen Auswahl der Beiträge, die verschiedene Facetten des Gemeinschaftsbegriffs ausleuchten.
Eins, zwei, drei, wir – Literarische Vielstimmigkeit im Dienst eines großen Themas
Das Buch nähert sich seinem Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven: von der intimen Zweisamkeit „unter der Decke auf der Couch“ bis hin zu größeren sozialen Zusammenschlüssen wie dem Chor oder dem Familienclan. Diese Bandbreite ist zugleich Stärke und Schwäche der Sammlung. Positiv hervorzuheben ist die Erkenntnis, dass Gemeinschaft nicht monolithisch gedacht wird, sondern als vielschichtiges Phänomen begriffen wird, das sowohl stärkende als auch potenziell ausschließende Mechanismen bereithält.
Die Herausgeberin vermeidet geschickt die Falle einer eindimensionalen Verklärung von Gemeinschaft. Stattdessen werden auch die Schattenseiten thematisiert: Was geschieht, wenn Menschen aus Gemeinschaften ausgeschlossen werden oder diese verlassen wollen? Diese kritische Reflexion hebt das Werk wohltuend von oberflächlichen Gemeinschaftseuphemismen ab.
Zwischen Aktualität und zeitloser Relevanz
In einer Epoche, die – wie das Harper’s Bazaar treffend bemerkt – „so oft vom Gegeneinander erzählt“, wirkt die Beschäftigung mit Gemeinschaftsformen erfrischend konstruktiv. Die Anthologie profitiert von ihrer Entstehungszeit: Nach Jahren der Pandemie-bedingten Isolation und angesichts gesellschaftlicher Polarisierungstendenzen erscheint die Frage nach gelingender Gemeinschaft aktueller denn je.
Dennoch liegt hier auch eine gewisse Problematik: Die Gefahr des Zeitgeists. Während Ferdinand Tönnies bereits 1887 in seinem grundlegenden Werk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ die Spannungen zwischen organischer Gemeinschaft und mechanischer Gesellschaft philosophisch durchdrang, droht eine zeitgenössische Anthologie bisweilen in der Oberflächlichkeit tagespolitischer Befindlichkeiten zu verharren.
Kritische Einordnung: Stärken und Schwächen
Die Stärke des Bandes liegt in seiner bewussten Heterogenität. Wie bereits in früheren Arbeiten Martha Schoknechts zeigt sich ihre Fähigkeit, literarische Texte so zu arrangieren, dass sie sich gegenseitig kommentieren und erweitern, ohne dabei aufdringlich didaktisch zu werden. Die Behauptung, dass „unser Ich auch im Wir erhalten“ bleibt, zeugt von einem differenzierten Verständnis der Individualitäts-Kollektivitäts-Dialektik.
Dennoch muss kritisch angemerkt werden, dass der Sammelband in seiner thematischen Konzentration zuweilen etwas beliebig wirkt. Die Gefahr solcher Anthologien liegt in ihrer Tendenz zur Gemeinplätze-Sammlung. Wenn Gemeinschaft als universelles Heilmittel für gesellschaftliche Verwerfungen präsentiert wird, übersieht man leicht die strukturellen Ursachen sozialer Desintegration.
Literarische Qualität und ästhetische Überzeugungskraft
Über die einzelnen Beiträge lässt sich ohne Kenntnis der konkreten Texte nur bedingt urteilen. Doch die Tatsache, dass ausschließlich Originalbeiträge versammelt wurden, spricht für den Anspruch, nicht lediglich bekannte Texte zu recyceln, sondern zeitgenössische Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Dies verleiht der Sammlung eine gewisse Aktualität und Authentizität.
Die Wahl des Diogenes Verlags als Herausgeber unterstreicht dabei den literarischen Anspruch des Projekts. Der Verlag, der sich als „größter unabhängiger Belletristikverlag Europas“ etabliert hat und für qualitätvolle Literatur steht, bürgt für eine entsprechende editorische Sorgfalt.
Wohltuende Nachdenklichkeit mit Grenzen
„Eins, zwei, drei, wir“ ist ein Buch, das zur rechten Zeit erscheint. In einer Gesellschaft, die zwischen Vereinzelung und Sehnsuchtsgemeinschaften oszilliert, bietet es einen literarischen Reflexionsraum. Martha Schoknecht gelingt es, das Thema Gemeinschaft weder zu romantisieren noch zu verteufeln, sondern in seiner Ambivalenz ernst zu nehmen.
Die Schwächen der Anthologie liegen weniger in der Konzeption als in den Grenzen des Formats: Eine Sammlung von Texten verschiedener Autoren kann die Komplexität des Themas nur anreißen, nicht aber systematisch durchdringen. Was als „wohltuend und anregend“ begonnen wird, läuft Gefahr, als gutgemeinte Trostliteratur zu enden. Für Leserinnen und Leser, die sich zwischen Individualitätsanspruch und Gemeinschaftsbedürfnis wiederfinden, bietet das Buch durchaus erhellende Momente. Es ist ein Werk für nachdenkliche Stunden, nicht aber für revolutionäre Erkenntnisse.