Mentalitäten – Was uns prägt und trennt – Peter Neumanns Essay über Mentalitäten

In „Mentalitäten. Wie wir besser verstehen, was uns trennt und was uns eint“ stellt Peter Neumann eine wichtige These auf: Die gesellschaftlichen Konflikte unserer Zeit lassen sich nicht allein mit dem Begriff der Identität erklären. Der promovierte Philosoph und ZEIT-Redakteur argumentiert, dass vielmehr tief verwurzelte Einstellungen und Überzeugungen – eben Mentalitäten – unsere Gegenwart prägen.

Das Buch beginnt mit einer persönlichen Erinnerung. Neumann schildert seine Jugend in der ostdeutschen Provinz der 1990er Jahre. Rechte Gewalt gehörte damals zum Alltag, Unsicherheit war allgegenwärtig. Er gehört zur Generation der Nachwendekinder – sie erlebten die DDR nicht mehr bewusst, wurden aber durch die Brüche der Wendezeit entscheidend geprägt. Seine Eltern, Teil einer „Lost Generation“, verloren ihre Lebensbahnen. Die Kinder wuchsen in einer Welt ohne klare Regeln und Vorbilder auf. Diese biografische Verankerung verleiht dem Essay Authentizität und Tiefe.

Mentalitäten – keine vorübergehende Befindlichkeit

Neumann macht deutlich, dass die Kluft zwischen Ost und West längst kein vorübergehendes Phänomen mehr ist, sondern sich zunehmend als dauerhafte Prägung in die mentale Landkarte Deutschlands einschreibt. Die Unterschiede, die einst als temporäre Nachwirkungen der Teilung galten, haben sich im Laufe der Jahrzehnte zu festen Bestandteilen der gesellschaftlichen Identität entwickelt.

Insbesondere die Erfolge populistischer Parteien im Osten sind nach Neumann nicht bloß Ausdruck kurzfristigen Protests, sondern spiegeln eine tief verwurzelte Frustration und eine eigenständige kulturelle Prägung wider, die sich über Generationen hinweg verfestigt hat. Diese mentalen Unterschiede lassen sich nicht allein auf ökonomische oder politische Faktoren reduzieren. Vielmehr verweist Neumann auf ein komplexes Geflecht aus historischen Erfahrungen, gesellschaftlichen Umbrüchen und kollektiven Erinnerungen, das den Osten bis heute prägt.

Er stützt sich dabei auf die Analysen des Soziologen Steffen Mau, der von „verknöcherten“ Prägungen nach dem tiefgreifenden Einschnitt der Wendezeit spricht. Mau beschreibt, wie der Umbruch der 1990er Jahre nicht nur neue Möglichkeiten eröffnete, sondern auch Unsicherheiten und Entwurzelung mit sich brachte – Erfahrungen, die sich tief ins Bewusstsein vieler Ostdeutscher eingegraben haben.

Verschiedene Entwicklungspfade

Die langjährige Trennung in zwei grundverschiedene Gesellschaftssysteme – hier die westliche Demokratie, dort die sozialistische Diktatur – hat Denk- und Verhaltensmuster, Wertvorstellungen und Selbstbilder nachhaltig geprägt. Noch immer zeigen Umfragen, dass viele Ostdeutsche ihre Identität in bewusster Abgrenzung zum Westen definieren und sich in ihren Lebenswegen, Erwartungen und ihrem gesellschaftlichen Selbstverständnis unterscheiden.

So bleibt die „mentale Topografie“ Deutschlands von Brüchen und Gräben durchzogen, die sich nicht einfach durch politische Maßnahmen oder ökonomische Angleichung überwinden lassen. Vielmehr bedarf es eines tieferen Verständnisses für die historischen und kulturellen Wurzeln dieser Unterschiede – und für die Sehnsucht nach Anerkennung und Teilhabe, die sich hinter vielen politischen und gesellschaftlichen Reaktionen verbirgt.

Mentalitäten finden sich überall

Die Analyse bleibt jedoch nicht beim Osten stehen. Neumann weitet den Blick und zeigt, wie Mentalitäten auch in anderen Konfliktfeldern wirken: im Stadt-Land-Gefälle, in der Debatte um die ideologische Befürwortung von Kriegen, beim Ringen um die Zukunft des „Globalen Westens“ oder bei alltäglichen Streitfragen wie Verkehrspolitik und Flüchtlingsaufnahme. Immer wieder wird deutlich: Wer die Spannungen unserer Zeit verstehen will, braucht ein „feineres Besteck“ als die Identitätspolitik. Es sind Mentalitäten, die unser Erleben, Fühlen und Handeln bestimmen.

Stilistisch überzeugt Neumann durch klare, unprätentiöse Sprache. Er verbindet persönliche Erfahrung und gesellschaftliche Analyse gekonnt. Seine Argumentation ist nie larmoyant, sondern von leiser, fast melancholischer Nachdenklichkeit getragen. Das Buch ist kein soziologisches Traktat, sondern ein persönlicher Essay im besten Sinne. Es lädt die Leser dazu ein, die eigenen Prägungen zu reflektieren und die Macht der Mentalitäten zu erkennen.

Verlag: https://www.penguin.de/

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