In ihrem neuen Buch „Mut“ nimmt uns die Wiener Autorin Maureen Reitinger mit auf eine ebenso persönliche wie gesellschaftskritische Reise durch die verschiedenen Facetten einer Eigenschaft, die wir alle zu kennen glauben.
Mut – ein neuer Blick auf eine altbekannte Eigenschaft
Reitingers Essay beginnt mit einer Frage, die das gesamte Werk durchzieht: Was bedeutet es eigentlich, mutig zu sein? Die Autorin demontiert dabei geschickt unsere gängige Vorstellung von Mut als spektakuläre Leistung oder außergewöhnliches Wagnis. Stattdessen entwickelt sie eine differenzierte Perspektive, die den alltäglichen, leisen Mut würdigt – jenen Mut, den wir im täglichen Überleben, im Weitermachen trotz Widrigkeiten, im Aufstehen nach Niederlagen beweisen.
Besonders überzeugend ist Reitingers Analyse der gesellschaftlichen Zuschreibungen von Mut. Mit scharfem Blick seziert sie, wie patriarchale Strukturen und kapitalistische Interessen unsere Vorstellung von Stärke und Mut prägen. Warum, so fragt sie, müssen weiblich gelesene Personen mehr Mut aufbringen, um in unserer Gesellschaft zu existieren? Und weshalb werden die alltäglichen Mutproben marginalisierter Gruppen selten als solche anerkannt?
Persönliche Offenheit als Stärke
Die größte Stärke des Buches liegt in seiner Authentizität. Reitinger teilt mit bemerkenswerter Offenheit ihre eigene Reise – ihren Kampf mit einer Essstörung, die Überwindung gesellschaftlicher Körpernormen und das Wiederfinden ihres Selbstwerts. Diese Passagen berühren nicht nur durch ihre Ehrlichkeit, sondern illustrieren eindrücklich, wie Mut sich in den vermeintlich kleinen Momenten des Lebens manifestiert: im Aufsuchen therapeutischer Hilfe, im Sich-verletzlich-Zeigen, im Akzeptieren des eigenen Körpers.
Gekonnt verwebt die Autorin ihre persönlichen Erfahrungen mit gesellschaftlichen Beobachtungen und theoretischen Reflexionen, unterstützt durch klug ausgewählte Zitate von Denkerinnen wie Brené Brown, Bell Hooks und Chimamanda Ngozi Adichie.
Kritische Betrachtung
Bei aller Wertschätzung für Reitingers Ansatz offenbart der Essay auch einige Schwachstellen. Die stark autobiografische Ausrichtung mag für manche Leser zu selbstbezogen erscheinen und die Übertragbarkeit der Erkenntnisse einschränken. Zudem verbleibt die gesellschaftskritische Analyse stellenweise an der Oberfläche, wo eine tiefergehende Auseinandersetzung mit intersektionalen Aspekten von Mut bereichernd gewesen wäre.
Auch der bewusste Einsatz des generischen Femininums – eine sprachliche Entscheidung, die die Autorin explizit begründet – könnte bei manchen Lesern für Irritation sorgen, obwohl dies durchaus als konsequente Umsetzung ihres kritischen Ansatzes verstanden werden kann. Die von Reitinger angeführten Beispiele zum „Alltagsmut“ marginalisierter Gruppen wirken mitunter etwas aneinandergereiht und könnten von einer tieferen Einbettung in strukturelle Zusammenhänge profitieren. Hier hätte ich mir als Leser eine noch differenziertere Betrachtung gewünscht.
Mut – kein schneller Ratgeber
„Mut“ ist kein Ratgeber, der fertige Lösungen anbietet, sondern ein Essay, der zum Nachdenken anregt und unsere Perspektive erweitert. Reitinger schreibt mit einer erfrischenden Direktheit und einem feinen Gespür für die Komplexität menschlicher Erfahrungen. Ihre Sprache ist zugänglich und präzise, ohne dabei an Tiefe einzubüßen.
Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Neudefinition von Mut jenseits patriarchaler und kapitalistischer Zuschreibungen. Es lädt ein zum Hinterfragen scheinbarer Selbstverständlichkeiten und zur Wertschätzung jener alltäglichen Formen von Mut, die selten Anerkennung finden.
Trotz einiger konzeptioneller Schwächen ist „Mut“ eine lohnenswerte Lektüre für alle, die bereit sind, ihre Vorstellung von Stärke und Mut zu erweitern und den eigenen, vielleicht unscheinbaren Mut im Alltäglichen zu entdecken. Maureen Reitinger beweist mit diesem Essay selbst jenen Mut, den sie beschreibt – den Mut zur Verletzlichkeit, zur Authentizität und zur Neudefinition scheinbar unverrückbarer Konzepte.
Verlag: https://www.kremayr-scheriau.at/
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